Session Abstract
Türkische Populärkultur in den 1970er Jahren
Eingerahmt von zwei Militärputschen standen die 1970er Jahre im Zeichen politischer Instabilität. Die Regierung wechselte stetig, die sogenannte Ölkrise leitete 1973 eine Wirtschaftskrise ein und das gesellschaftspolitische Klima war gekennzeichnet von blutigen Straßenkämpfen und der Spaltung des rechten und linken Lagers, die mit dem Militärputsch 1980 repressiv unterbunden wurde. Während offizielle Arbeitsmigrationsprogramme nach Westeuropa beendet wurden, setzte sich die Migration aus der Türkei durch Familiennachzug und Exil in veränderter Form fort.
Vor der Kulisse dieses instabilen Jahrzehnts gewinnen Fragen nach der Alltags- und Unterhaltungskultur an Bedeutung. Populärkultur wird dabei verstanden als ein dynamischer Ort, an dem die Bedeutungs- und Sinnproduktion diskursiv, polysem, nicht linear, sondern grundsätzlich offen erzeugt wird. Zugleich entfaltet und wandelt sich Populärkultur transnational und wird insbesondere in migrantischen Communities kreativ transformiert.
In kritischen Analysen fragen die Vorträge des Panels nach der gelebten Alltagspraxis, der alltäglichen Wirklichkeit der Menschen der 1970er Jahre. Sie zeigen anhand zentraler Felder des aktiven Konsums wie Musik, Film und Mode auf, wie die kulturindustriellen Erzeugnisse als Seismographen sozialen Wandels und diskursiver Hegemonien sowohl in der Türkei als auch in türkeistämmigen Communities lesbar wurden.
Elektronik Türküler – zur Elektrifizierung türkischer Folkmusik
Holger Lund1,3, Cornelia Lund2,3
1DHBW Ravensburg, Germany; 2HfK Bremen, Germany; 3fluctuating images e.V., Germany
„Diese Ära hatte Elektrizität. Wahrscheinlich gab es zu dieser Zeit eine elektrische Energie im Weltraum, die die ganze Welt bedeckte, und wir wurden Teil dieser Elektrizität.“
Erkin Koray, Magazin Roll, 1997
1965 gab es anlässlich der Elektrifizierung seiner Musik die „Electric Dylan controversy“, bei der Bob Dylan Verrat an der Folkmusik und deren politischen Idealen vorgeworfen wurde. Im selben Jahr, 1965, schrieb die türkische Zeitung Hürriyet einen sehr populären Songwettbewerb aus, genannt das „Goldene Mikrofon“. Aufgabe war es, einen türkischen Folksong in westlichem Stile zu re-arrangieren und aufzuführen. Für die Verwestlichung stand vor allem die Elektrifizierung traditioneller Instrumente oder der Einsatz neuer elektrischer und elektronischer Instrumente der westlichen Pop-Musik.
Der Vortrag zeigt, wie die Elektrifizierung der Musik insbesondere in den 1970er Jahren zur Entwicklung einer neuen türkischen Musik, Anatolian Rock, führte, die auf eine ganz besondere Weise Ruralität und Urbanität, Folk und Rock kombinierte.
Von Verrat war dabei keinesfalls die Rede, im Gegenteil: jetzt konnte das kemalistische Programm einer Ost-West-Musik publikumswirksam umgesetzt werden. Denn mit der musikalischen Strompolitik erfolgte eine Fokusverschiebung bei dem westlichem Part von Ziya Gökalps musikideologischem Ost-West-Konstrukt: von der favorisierten aber eher unbeliebten europäischen Opernklassik verschob sich der Fokus im Zuge der Amerikanisierung der 1950er Jahre in der Türkei hin zur wesentlich beliebteren anglophonen Pop-Rock-Musik. Dabei konnte dann auch anatolische Folkmusik völlig neu definiert werden, als elektrifizierter „Heavy Folk“, der prinzipiell traditionell belassen wird, jedoch mit stark verzerrter E-Saz gespielt und elektronischem Hall gesungen wird. Der vom „Goldenen Mikrofon“ ausgehende lange Arm der Elektrifizierung erreichte in den 1970er Jahren auch weitere (Multi-)Hybrid-Genres, Arabesk-Rock etwa oder Taverna-Synth Pop. Man wurde allenthalben „Teil dieser Elektrizität“ (Erkin Koray), der seinem ersten Album den Titel Elektronik Türküler (1974) gab.